Planet der Affen

Es begann nach einem Planet der Affen-Marathon in einem Billig-Kino, etwa eine Meile vom Haus meiner Eltern. Die erste Folge hatte ich neunmal gesehen und immer darauf gewartet, dass Zira fragte: «Was, glauben Sie, wird er in der Verbotenen Zone finden, Dr. Zaius?» Das infrage stehende Gebiet war eine riesige Ödnis, off limits für die intelligenten Schimpansen und kriegerischen Gorillas, die diese auf den Kopf gestellte Welt bewohnten. Als Bright Eyes, der trutzige Astronaut, der auf diesem Planeten gestrandet ist, entkommt Charlton Heston seinen Häschern und reitet in Begleitung der stummen menschlichen Titten-Ilse, die er zu seiner Gefährtin erwählt hat, in die Verbotene Zone. Ihr Pferd trabt über dürre Wüsten und Sandstrände, bis sie auf die halbbeerdigten Reste der Freiheitsstatue stoßen. Als ihm plötzlich klar wird, dass er sich während der gesamten Dauer des zweistündigen Films auf seinem Heimatplaneten befunden hat, sitzt Charlton Heston von seinem Pferd ab und kniet sich in den Sand. «Seid verdammt!», schreit er, reckt und schüttelt die Fäuste der hitzebläschenverursachenden Sonne entgegen. «Seid alle verdammt und fahrt zur Hölle!»

Ich hatte das Kino an einem hellen, feuchten Vormittag betreten, aber als ich es verließ, benommen und von Süßigkeiten aufgedunsen, war es dunkel, und es regnete. Ich überlegte, ob ich meine Mutter anrufe, damit sie mich abholt, aber sie war nicht da, weil sie für die Pfadfinderinnentruppe meiner Schwester Amy Kartoffeln in Alu-Folie verpackte. Damit blieb nur mein Vater. «Ich bin in fünf Minuten da», sagte er. Im Hintergrund hörte ich, wie jemand die Formulierung «drei Achtel» gebrauchte. Das bedeutete nicht drei Achtelzoll oder drei Achtel plus fünf Achtel oder irgendwas, sondern drei Achtel von einem Punkt, und das bedeutete, dass er die Börsennachrichten sah und für den Abend bereits die Hose ausgezogen hatte.

Eine Stunde später rief ich wieder an und er sagte: «Ich bin eben gerade zur Tür raus.» Am anderen Ende der Leitung lachte und johlte ein Studiopublikum. Die SitComs hatten angefangen. Das bedeutete, dass er auf seinem Sessel eingeschlafen war. Da saß er dann schnarchend, bis jemand versuchte, ein anderes Programm einzuschalten. «Was machst du da?», brüllte er. «Siehst doch, dass ich das gerade kucke!»

Noch schlimmer war es an Wochenendnachmittagen, wenn man anrief, um sich abholen zu lassen, und nichts im Hintergrund hörte. Das bedeutete, dass er Golf sah, Stunden der Stille, nur hin und wieder vom Kommentator unterbrochen, der flüsterte: «Das war Bogey, Bogey und Doppelbogey für Hogan, der mit neun über dem Par heute hier in Oakland Hills ins vierte kommt.»

Man konnte aus seinen Klamotten herauswachsen, wenn man darauf wartete, dass mein Vater einen abholte. Ich rief zum drittenmal an und er sagte groggy und verwirrt: «Welcher David? Was für ein Film? Wo?»

Ich verließ das Einkaufszentrum mit dem Kino, ging über die Straße und hielt den Daumen nach rechts. So einfach war das. Mein Vater hielt immer an, um Tramper mitzunehmen. Selbst wenn wir alle schon dicht gedrängt auf dem Weg zum Schwimmen oder zum Einkaufen im Kombi saßen, fuhr er rechts ran und wies uns an zusammenzurücken, wir hätten Besuch. Es war immer aufregend, einen Fremden im Auto zu haben, junge Männer, die wir mit Fragen quälen konnten. Unser Vater, dessen Cocktail zwischen seinen Beinen klimperte, war nach außen hin liebenswürdig, aber auch argwöhnisch. Er spielte mit unseren Gästen und tat, als wären ihre Geschichten genau das, Geschichten, etwas, was sie sich unterwegs ausdachten.

«Na schön, ‹Rudy›, dann fahr ich Sie mal zu Ihrer ‹Großmutter›, damit Sie Ihre ‹Wäsche› abholen können.» Dann schüttelte er den Kopf und lachte in sich hinein. «Bin immer froh, wenn ich einem netten jungen Mann wie Ihnen helfen kann.»

«Nein, wirklich», sagte unser Passagier. «Sie ist tatsächlich meine Großmutter. Ich schwör’s Ihnen.»

«Jetzt schwört er auch noch», sagte mein Vater. «Dem Ingenieur ist nichts zu schwör.»

Solang sie noch jung waren, nahm er sie mit großem Vergnügen mit; aber die alten –, die konnte man vergessen. Wir sahen einen gebeugten und wettergegerbten Opa neben einem abgewetzten Koffer und riefen: «Da ist einer! Dad, halt an!» Unser Vater ignorierte unseren Wunsch und fuhr an diesen Männern vorbei, als wären sie ausgeschnittene und ausgemalte Anzeigen für Etablissements wie «Au Petit Clochard» oder «Zum fidelen Penner».

Ich hielt den Daumen in die Luft und war sicher, jemand wie mein Vater würde mich mitnehmen, aber stattdessen war es eine ältere Frau, die Frisur durch ein Plastikhäubchen geschützt. Sie kurbelte ihr Fenster herunter und brüllte, als hätten wir seit mehreren Jahren Zoff miteinander: «Verdammter Bengel, beweg gefälligst deinen traurigen Hintern in dieses Auto rein.»

Sie trug eine hellblaue Uniform, was auf die Kassiererin einer hiesigen Supermarktkettenfiliale schließen ließ. «Was bist du, vierzehn, fünfzehn Jahre alt? Ich hab einen Enkel etwa in deinem Alter, und wenn ich den jemals beim Trampen erwische, trete ich ihm so tief in den Arsch, dass ich einen neuen Schuh brauche. Was zum Teufel fällt dir ein, lässt dich von Fremden mitnehmen? Was ist, wenn ich eine Pistole oder ein Klappmesser habe? Du könntest dich doch gegen keine Hauskatze wehren, und sag mir bloß nicht was anderes, deine Sorte kenne ich nämlich schon, Herr Schlaumeier, nur allzu gut kenne ich deine Sorte. Was sagt denn deine Mutter zu solchen Dummheiten? Wo sind überhaupt deine Leute?»

«Meine Eltern?» Ich zögerte kurz, weil mir klarwurde, dass ich dieser Frau die Wahrheit gar nicht zu sagen brauchte. Wahrscheinlich sieht sie mich sowieso nie wieder; und wenn doch, wieso soll sie mich wiedererkennen? Ich sagte ihr, mein Vater sei auf einer Friedenskonferenz in Stockholm, Deutschland, und meine Mutter sei Fernfahrerin auf dem Weg zur Westküste mit einer Ladung … Strumpfhosen.

«Genau», sagte die Frau und stopfte ihre Zigarette in den schwelenden Aschenbecher, «und auf meinem Hinterhof stille ich aus blankem Übermut Kamelbabys. Sag mir einfach, wo du wohnst, Pinocchio, und spar dir den Quatsch mit Soße fürs Mittagessen auf.»

Sie fuhr in unsere Einfahrt, als mein Vater gerade das Haus verließ, um mich abzuholen. «Fernfahrerin am Arsch, wo er am rosigsten ist», sagte sie. «Jetzt möchte ich, dass du in dein schickes Haus gehst und da drin bleibst, bevor dir jemand seine Initialen in den Schädel schnitzt. Diesmal hast du Glück gehabt, aber wenn ich dich je wieder da draußen erwische, überfahre ich dich, nur um dir das Elend zu ersparen.»

Ich begann, regulär per Anhalter zu fahren. Außer dass es bequem war, machte es mir Spaß, mit Leuten zusammenzusein, die nichts über mich wussten. Ich konnte mich nach Lust und Laune neu erfinden und probierte jeweils die Persönlichkeit an, die zu meiner Stimmung passte. Ich war Broadway-Schauspieler, der für eine bevorstehende Inszenierung den hiesigen Akzent studierte, oder vielleicht ein kalifornischer High-School-Schüler, der hier seinen Vater ausfindig machen wollte, den er nie kennengelernt hatte. «Es heißt, er höre auf den Namen T-Bone, aber das ist auch schon mein einziger Anhaltspunkt.»

Manche Leute hielten fast so an, als hätten sie mit mir gerechnet; andere wurden erst langsamer und musterten mich, bevor sie endgültig anhielten. Es waren schwarze Geistliche und pensionierte Schlosser, Rettungsschwimmer, Tanzlehrer und Parkettabschleifer, und meistens waren sie allein. Raleigh war nicht so groß, und den meisten Menschen machte es nichts aus, für einen Fremden einen Umweg von einer bis zwei Meilen zu fahren. «Sie sollten etwas mehr Zeit hier verbringen, Maurice», sagten sie. «Es ist eine freundliche Stadt mit vielen Entfaltungsmöglichkeiten für einen talentierten Konzertpianisten wie Sie.»

Ich trampte nie aus der Stadt heraus, bis ich aufs College ging und mich einem Mädchen namens Veronica anschloss, dessen Leben einer der Geschichten ähnelte, die ich erfunden hatte. Ihre Mutter war gestorben, als sie an eine eiserne Lunge angeschlossen war, die im Esszimmer der Familie stand. Zu der Zeit war Veronica vierzehn und machte, als sie davon erfuhr, gerade ihren ersten LSD-Trip durch. «Wenn man jemandem einen echt guten Trip vermiesen will, dann ist das die richtige Methode», sagte sie. Ihr Vater hatte in den letzten vier Jahren zweimal neu geheiratet und sie durch zwei komplette Stieffamilien gezerrt. Diese Erfahrung hatte sie gelehrt, sich allein durchzuschlagen. Sie war abenteuerlustig und auf eine Weise selbständig, die ich noch nie kennengelernt hatte, sowie in den Künsten Camping, Zigarettendrehen und Unbemerkt-aus-Fenstern-im-1.-Stock-Abhauen bewandert. Unser College-Gelände lag isoliert in den Bergen des westlichen North Carolina, weit von den gefeierten touristischen Attraktionen der Region entfernt. Wir fingen mit Tagesausfügen an, zuerst nach Gatlinburg, um uns nachgemachte Indianer anzusehen, und dann nach Cherokee, zu den richtigen.

Sie war jemand, der es gewohnt war, das Kommando zu übernehmen; gemeinsam überquerten wir die Grenzen des Bundesstaats und trampten bis hin nach Nashville und Washington, D. C. Am Ende des Schuljahrs ging ich nach Kent State ab, und Veronica haute ab nach San Francisco, wo ihr Bruder ihr einen Job in einem Kino besorgte. Durch ihre Briefe erschien mir mein Leben hoffnungslos langweilig und vorhersehbar. «Ich könnte Dich hier unterbringen wie nix!», schrieb sie. «So viel Popcorn und Bonbons, wie Du runterkriegst, und kostet dich keine 5 Cent. Filme gratis, sauberes Scheißhaus …: Was willst du mehr?»

Ich brauchte ein Jahr, bevor ich beschloss, ihr zu folgen. Ich trat die Reise mit einem College-Studenten im vierten Semester namens Randolph Feathers an, den ich auf einer Party kennengelernt hatte. Randolph kreierte sein eigenes Hauptfach, Beat-Literatur, ein Thema, welches, soweit es mich betraf, keine weitere Aufmerksamkeit verdiente. Seine Sammlung fleckiger Taschenbuch-Erstausgaben reflektierte seinen Glauben, dies sei eine spirituelle Reise, von seinen bongospielenden Helden begünstigt. Um sich auf sie vorzubereiten, hatte er sich einen Ziegenbart wachsen lassen und einen australischen Busch-Hut gekauft und mit Anstecknadeln und Buttons verziert, die den zahlreichen politischen Idealen an verlobt waren, die seinem Herzen nahestanden. Veronica hatte mir beigebracht, dass man, wenn man ein paar Extrameilen abstauben will, nie mit einem Fahrer debattieren oder streiten soll. Wenn er, sagen wir mal, an die Zwangssterilisation von Rothaarigen glaubte, war es am besten, wenn man sagte: «Hmm, so sehr hab ich mich damit noch gar nicht beschäftigt, aber könnte durchaus was dran sein.» Randolphs Hut garantierte, dass wir in keinerlei Cadillacs mit Klimaanlage mitgenommen wurden. Um es noch schlimmer zu machen, hatte er entschieden, eine Gitarre mitzunehmen. Wir waren noch kein einziges Mal mitgenommen worden, da zog er sie bereits heraus und begann, eine seiner klagenden Balladen zu komponieren. «Hier steh’ ich an der Hundertdrei, / Steck’ den Daumen in die Luft. / Jedes Auto rast vorbei, / Vertieft die soziale Kluft.» Ich würde eher jemanden mitnehmen, der eine Pistole schwenkt, als einen, der eine Gitarre dabeihat. Barfuß lag er am Straßenrand, den Kopf auf dem Rucksack, trainierte seine Zehen und fragte sich, warum uns keiner mitnahm. «Eine herzlos miese Welt, / So gefühllos und so kalt. / Nach Frisco kommen ohne Geld? / Da werd’ ich eher kahl und alt.»

Außerhalb von Indianapolis nahmen uns zwei junge Männer in einem Jeep mit, die sich als Starsky und Hutch vorstellten, Namen, die sie sich von den dreisten, saloppen Helden einer beliebten Fernsehserie ausgeborgt hatten. Sie waren bedröhnt und bekloppt und spülten ihre rezeptfreien Amphetamine literweise mit warmen Bieren herunter. Befragt, woher sie kämen, deutete Starsky ein heftiges Würgen an.

«Das ist der Code für ‹Delaware›», erklärte Hutch.

Starsky zeigte dem Fahrer eines orangefarbenen Gremlin seinen Mittelfinger.

«Das war der Wappenvogel», sagte Hutch. Er nahm einen Schluck von seinem Bier, rülpste und proklamierte dies zum Motto des betreffenden Bundesstaats.

Als sie bemerkten, dass nicht mehr viel im Tank war, hielten sie bei einer Tankstelle an, wo ich ihnen etwas Benzingeld anbot und hoffte, sie würden diese Aufmerksamkeit als ausreichende Bezahlung akzeptieren. Starsky sagte, die Kosten seien abgedeckt, und fügte hinzu, einen Schokoriegel könne er dagegen echt gut vertragen. «Nicht nur Schoko –, Riegel. Geh doch mal in den Tankstellenladen und kuck, ob sie so was haben.»

Es ist immer besser, wenn einer beim Auto bleibt, falls der Fahrer plötzlich den Drang verspürt, mit den Rucksäcken abzuhauen; also blieb Randolph beim Auto, blinzelte in die fache, uninspirierte Landschaft und erfüllte Hutch seinen Musikwunsch, «Freebird».

Ich kaufte einen Beutel Kartoffelchips und einen Riegel Schokoartiges und kam zurück, als Starsky gerade den Tankdeckel zuschraubte. «Spring rein, Chef.» Er sah, dass der Tankwart auf dem Weg zu uns war, um uns Geld abzunehmen, aber als der Mann gerade die Zapfsäule erreicht hatte, heizte Starsky aus der Tankstelle, über ein Betonmäuerchen und auf die Bundesautobahn. «Ich weiß nicht, wie cool ich das finden soll», sagte Randolph. «Was ist, wenn er die Polizei ruft?»

«Polizei?» Starsky drehte sich um, um ihn anzusehen. «Hey-ho, Kumpel, wir sind schneller als die Polizei, null verdammtescheissenochmal Problemo.» Er stapfte auf das Gaspedal und der Jeep beschleunigte wie ein Flugzeug kurz vor dem Abheben. Wir überholten die anderen Autos, als wären sie geparkt, Hutch machte einen Buckel und hatte den geballten, entschlossenen Blick eines Bomberpiloten, der im Begriff steht, ein Dorf voller ahnungsloser Bäuerlein auszulöschen. Er schrie Hutch an, der solle das Steuer übernehmen, während er den Schokoriegel öffnete, der Jeep scherte auf die andere Spur aus und verfehlte einen Tanklastzug mit Dieselöl um Haaresbreite. Hupen tuteten, und Bremsen quietschten, und zum ersten Mal in meinem Leben dachte ich: So sterben Menschen; genauso passiert es. Randolphs Hut flog aus dem Fenster, doch selbst wenn der gewalttätige Fahrtwind seine Gitarre mitgenommen hätte, bezweifle ich, dass es mir gelungen wäre, das so richtig gut zu finden. Dies war nicht die Lage, in der man über anderer Leute Missgeschick lacht. Mitgegangen, mitgefangen. Entweder starben wir, oder wir verbrachten den Rest unseres Lebens auf den abgelegenen Stationen eines Krankenhauses, wo regelmäßig Krankenschwestern kamen, um uns die komatösen Gliedmaßen zu massieren und ermutigende Worte zuzuflüstern. Unter seinem Ziegenbart und seinem Tie-Dye-Batik-T-Shirt war er wie ich, waren wir winselnde, zitternde Brüder, die rasend nach den nicht vorhandenen Sitzgurten suchten und stattdessen, bestrebt, Stütze und Trost zu finden, einander fest umklammert hielten. Starsky und Hutch schienen dieses Bild des Jammers und der Angst zu genießen und Starsky wackelte mit dem Steuerrad und schnitt andere Autos, nur um uns kauern und beten zu sehen. Wir legten eine ungeheure Strecke hinter uns, bevor Starsky anhielt, um sich hinter einer Plakatwand zu erleichtern. Es kam mir merkwürdig vor, dass er Benzin stahl und das Leben zahlloser Fremder bedrohte, es aber für nötig hielt, sich beim Pinkeln so komplett zu verstecken. Er ging tief ins hohe Gras hinein, und Randolph und ich ergriffen die Gelegenheit, aus dieser Todesfalle zu springen, wobei unsere bebenden Hände kaum noch fähig waren, die Rucksäcke zu ergreifen. «Ganz toll», sagten wir. «Das ist haargenau die Stelle, wo wir hinwollten.»

Starsky zog seinen Hosenstall zu und tauschte das Steuer mit Hutch, der etwa hundert Meter weit fuhr und dann noch mal im Rückwärtsgang dahin fuhr, wo wir standen. «Und noch was», sagte Starsky. «Dein Schokoriegel schmeckt echt scheiße.» Er holte aus und warf ihn in unsere Richtung, bevor es in einer Wolke aus Abgasen und Kies auf der Bundesautobahn weiterging. Der Riegel prallte von der Plakatwand ab und prallte auf die Straße, von der Randolph ihn aufhob. Er wischte ihn ab und aß ein paar Bissen, bevor er sagte, also er fände ihn nicht schlecht.

Wir erreichten Colorado, was genauso war, wie ich es in Kalendern abgebildet gesehen hatte: wolkenloser blauer Himmel und heroische Berge, von großartigen Tannen getupft. Genau wie ein Kalender, ohne Autos, Menschen oder Häuser, die den Blick beflecken konnten. Randolph nutzte die technisch bedingte Pause, um ein paar neue Songs zu komponieren. «Es zu erraten war nicht schwer; / Sie kamen aus … Delaware.»

Für kurze Zeit brachte uns unsere Begegnung mit dem Desaster einander näher. Immer wieder erzählten wir die Geschichte unseren Fahrern, wie ein altes Ehepaar, indem einer die Sätze des anderen vollendete. Das Erlebnis schien säuberlich in Randolphs Beat-Gedankengut zu passen und er sprach mit wachsender Häufigkeit von Karma und Erlösung. Eines heißen, sonnigen Nachmittags fanden wir uns am Ufer eines klaren, eilig dahin schießenden Flusses wieder, dessen Bett mit glatten Steinen gepflastert war. Es kamen gerade keine Mitfahrgelegenheiten, also zogen wir uns aus und schwammen und sahen zu unseren Füßen hinunter, wo silbrige Fische sich damit abmühten, in die falsche Richtung zu schwimmen. Das Ufer war mit einem Teppich aus duftenden Kiefernnadeln ausgelegt und Kaninchen rutschten durch die Wiese. Es war, für mich, einer jener Momente, da der Regisseur auf seinem Kirschenpflückerkran durch die Luft gesegelt kommen könnte und rufen: «Und … perfekt! Fünf Minuten Pause, Jungs, ist gekauft.» Während ich die Schönheit all dessen bewunderte, nickte Randolph wissend und bezog sich mit Kapitel und Seitenzahl auf eins der Bücher, die er in seinem Rucksack mit sich herumschleppte. Er schien alles parat zu haben, wie ein Tourist, der seinen Guide Michelin hält und beifällig nickt, wenn der Bus sich der London Bridge nähert. Meine brüderlichen Gefühle schwanden und bekamen ein paar Tage später endgültig den Rest, als er unser allerletztes Wasser austrank, laut rülpste und nach einem Wort fragte, das sich vielleicht auf Utah reimt. Ich konnte tagelang nicht schlafen.

An der kalifornischen Grenze wurden wir angehalten und gebeten, all unser Obst und Gemüse auszuhändigen, für den wenig wahrscheinlichen Fall, dass es auf die trockenen, beigefarbenen Felder, die den Kontrollpunkt umgaben, eine neue Art von Fliege oder Rüsselkäfer einschleppen könnte. Ich habe nie zu diesen Ostamerikanern gehört, die sich vom romantischen Sog Kaliforniens angezogen fühlen. Es war trotzdem ein befreiendes Gefühl, einen Teil des Landes zu bereisen, in dem kein Mitglied meiner Familie je gewesen war. Randolph klimperte leise auf seiner Gitarre, und ich gab sie hin, meine drei mulschigen Pflaumen, als wären sie der Nachname, den ich in der alten Heimat geführt hatte. Wir überquerten die Grenze in einem pfirsichfarbenen Mustang, der einem Sprachtherapeuten aus Barstow gehörte, und ich drehte mich kurz auf meinem Autositz um, bevor ich schwor, nie wieder einen Blick zurückzuwerfen.

Das San Francisco, das uns erwartete, wies keinerlei Ähnlichkeit mit dem think tank der Boheme auf, wie er in Randolphs zerfledderten Taschenbüchern beschrieben wurde. Die Straßen wimmelten nicht von Poeten, die in ihrem Gewissen schürften, sondern von Männern, die Westen mit Ziernägeln und enge Leder-Chaps trugen. Dies war nicht die Stadt des Beat, sondern ein Gebiet, das man hätte verbieten müssen. Veronica hatte für uns Zimmer in einem Wohnheim gefunden, welches von einem karamellfarbenen Mann geleitet wurde, dessen seltsame östliche Religion grelle orangefarbene Gewänder, unablässigen Gesang und Handschellen erforderlich machte. Randolph blieb zehn Tage und fuhr mit dem Bus nach Hause, nachdem ihm auf dem Korridor ein Nachbar die Frage gestellt hatte, ob er wohl so nett sein und seinen Penis für eine Blindverkostung zur Verfügung stellen könne. Veronica und ich reisten drei Monate später ab und fuhren nach Oregon, wo wir hofften, uns bei der Apfel- und Birnenernte dumm und krumm zu verdienen. Krumm beschrieb die Arbeit recht genau, und sobald sie vorbei war, hinkten wir die Küste hinauf nach Kanada, zurück nach Kalifornien, weiter quer durchs ganze Land, und machten halt, wo es uns passte. Es war die Verwirklichung meiner High-School-Phantasie, nur dass Veronica kaum einem Nasenaffen ähnelte. Sie war jedoch die ideale Reisegefährtin, gelassen und ausgeglichen. Als Pärchen wurden wir von Leuten mitgenommen, die nicht angehalten hätten, wenn wir zwei Männer gewesen wären. Das waren alleinreisende Frauen und Fernfahrer, die behaupteten, sie brauchten Gesellschaft, aber kaum je ein Wort sagten. Manchmal luden uns Leute zu sich nach Hause ein, die Nacht auf den Sofas zu verbringen. «Das Badezimmer ist am anderen Ende des Ganges und ich hab ein paar frische Handtücher hingelegt. Ich verlass mich drauf, dass ihr nicht den Fernseher oder die Stereo-Anlage klaut, aber alles andere könnt ihr haben, ist sowieso nur Müll.» Oder wir schliefen in leer stehenden Häusern, unter Brücken und Regendächern und einmal sogar auf dem Parkplatz eines Spielcasinos in Las Vegas. Wir fuhren hinunter nach Texas, nur um einmal ein Gürteltier zu sehen, bogen dann nach Norden ab und kamen Mitte November im westlichen North Carolina an. Die nächste Station sollte Raleigh sein, und um das Unvermeidliche hinauszuzögern, dachte ich, ich könnte mal ein paar Freunde vom College in Ohio besuchen. Es war die längste Reise, die ich je allein unternommen hatte, aber nachdem ich so viele Meilen zurückgelegt hatte, fand ich, ich konnte mich der Herausforderung stellen. Die Zeit hatte mich weise gemacht, dachte ich. Ohne irgendjemanden als Vorbild zu bemühen, war es mir gelungen, mich zu einer tollkühnen, heroischen Gestalt umzuwandeln, viel edler als die Personen, die in Randolphs modischen Beatnik-Gedichten oder -Romanen beschrieben wurden. Meine Freunde auf dem College würden mich als Propheten ansehen, und meine Gegenwart würde sie dazu bringen, den Wert ihres zahmen, vorhersehbaren Lebens infrage zu stellen. «Erzähl uns doch noch mal von deinen drei Tagen in der Mojave-Wüste», würden sie bitten. «Hattest du denn keine Angst? Schmeckt Klapperschlange wirklich wie Hühnchen? Was hast du mit den Zähnen gemacht?»

Ich hatte nicht vorgehabt zu lügen, aber es schien ein guter Schachzug, meine Geschichten zu schmücken, sie ein wenig zu polstern und zu retuschieren. Ich stand am Straßenrand und dachte, ich hätte genauso gut wilde Hengste zureiten oder Forellen mit den bloßen Händen fangen können –, wichtig war, dass ich mich kopfüber ins Leben gestürzt hatte, ohne Rücksicht auf die Folgen.

Ein Fenstervertreter nahm mich mit, sehr sogar, auf eine schier nicht enden wollende Strecke und er verbrachte sechs Stunden damit zu sagen: «Immer nur nehmen und nehmen, stimmt’s? Da stellt man sich einfach hin und steckt den Daumen in die Luft und schnappt sich, was man kriegen kann. Jawoll, da nimmt man und nimmt, bis man fast platzt. Aber wie steht’s mit Geben? Schon mal an Geben gedacht? Natürlich nicht, man hat ja alle Händevoll mit Nehmen zu tun, Herr von und zu vom Stamme Nimm. Ich dagegen bin das, was man einen Steuerzahler nennt. Die Steuer … Wie soll ich das erklären …? Das ist eine Art Tarif, den arbeitende Menschen entrichten müssen, damit jemand wie du sich einen Lenz machen kann. Ich gebe und gebe, bis ich nichts mehr übrig habe. Nichts! Und dann gebe ich gleich noch mal. Ich gebe und ich gebe all den kleinen Nehmern von Uncle Sam, jedem einzelnen von euch, aber was springt für mich dabei heraus? Ich habe mir überlegt, dass es vielleicht an der Zeit ist, allmählich auch mal was zu kriegen. Ja, vielleicht ist es an der Zeit, den Schuh zur Abwechslung mal an den andern Fuß zu ziehen. Du, mein junger Freund, wirst mir den Wagen waschen, innen und außen. Und du wirst dafür bezahlen!»

Er bog in eine Ausfahrt ein und fuhr zu einer Wasch-Straße, auf deren Dach drei künstliche Seehunde mit ihren motorisierten Flossen eine Limousine lederten. Der Mann stand bei der Stoßstange und überwachte mich, wie ich sein Auto shampoonierte und wachste.

«So ist es recht, ruhig ein bisschen Kraft investieren! Als nächstes möchte ich, dass du die Aschenbecher ausleerst und den Wagen von innen staubsaugst, von oben bis unten. Na los, dalli, leg mal ordentlich los.»

Mit der Arbeit hatte ich kein Problem, aber sein Anfeuerungsstil trieb mich in den Wahnsinn.

«Na, wie ist es, wenn man zur Abwechslung auch mal gibt? Macht nicht viel Spaß, was? Und jetzt mach voran und polier die Radkappen; ich will sie glänzen sehen. Bohnern, Bürschchen, bohnern!»

Ich bohner ja, ich bohner ja, nun lass mich doch in Ruh, dachte ich. Jeder Scheinwerfer repräsentierte seinen kahlen, funkelnden Schädel, und ich war mit dem Lappen zugange, als wäre er ein Blatt Schmirgelpapier. Ich polierte alles von der Antenne bis zum hinteren Nummernschild, bevor er mir meinen Rucksack aushändigte, losfuhr und hupte, als er sich in den Nachmittagsverkehr einfädelte. Ich wurde zur Bundesautobahn zurück mitgenommen und danach noch einmal, wodurch ich zwanzig Meilen hinter Charleston, West Virginia, landete. Die Sonne stand bereits niedrig und ich hoffte, vor Einbruch der Dunkelheit noch einmal eine lange Fahrt zu kriegen, vielleicht sogar bis nach Ohio hinein. Es war kalt draußen und meine Hände waren vom Waschen dieses Irrenautos aufgesprungen. Die Haut war rau, aber die Fingernägel glänzten frischgewachst.

Ich wartete zwanzig Minuten, bevor jemand langsamer wurde und zwanzig Meter von mir entfernt hielt. Es war ein Kleinlaster, dessen Aufschrift für eine Klimaanlagen-und-Kühltechnik-Firma warb. Oft hielt jemand, ein Schlaumeier, weit entfernt von einem an, um dann loszufahren und laut zu lachen, wenn man vom Hinrennen völlig erschöpft war. Als Reaktion hatte ich ein lässiges Traben entwickelt.

Das Hemd des Mannes stellte ihn als T. W. vor. Das Führerhaus des Kleinlasters war mit Süßigkeiteneinwickelpapier und Brausebüchsen zugemüllt. Ich fragte ihn, was T. W. bedeute und er sagte mir, es bedeute T. W. Sein Nachname, sagte er, fange mit A an, «weshalb es, wenn man es hintereinander liest, richtig gut klingt»*. Er hatte ein offenes, kindliches Gesicht, dessen Züge kontinuierliches Staunen ausdrückten. Es war, als hätte er die letzten zehn Jahre im Koma verbracht und fände nun, da er aufgewacht war, alles neu und sensationell. Ich erzählte ihm, ich sei Medizinstudent im letzten Semester, nur noch ein paar Monate, dann würde ich als Bester meines Jahrgangs graduieren.

* TWA bedeutet Trans World Airways, aber twat bedeutet Fotze. (Anm. d. Übers.) «Echt wahr? Sie werden Arzt und operieren? Menschen? Da müssen Sie doch ganz schön schlau sein, wenn Sie Arzt werden. Und am Gehirn operieren Sie auch, sagen Sie?»

Ich hatte gesagt, ich täte das schon seit Jahren und es sei längst nicht so schwer, wie es aussehe. Es mochte merkwürdig wirken, dass ein zwanzig Jahre alter Gehirnchirurg sich von wildfremden Menschen per Anhalter mitnehmen lässt, und ich sagte ihm, ich hätte mit einem Kommilitonen gewettet. «Fünfzig Dollar, dass ich es von der Duke University rechtzeitig bis nach Kent State zum morgigen Frontal-Lobotomie-Kongress schaffe», sagte ich. «Nicht, dass ich das Geld brauchte oder so, aber so was tun wir Ärzte bisweilen, um Dampf abzulassen.»

«Na, ich werde dafür sorgen, dass Sie diese Wette gewinnen», sagte T. W. Er erläuterte, er habe frühzeitig mit der Arbeit aufgehört und würde mich mit dem allergrößten Vergnügen nach Ohio fahren, da er ohnehin eine Nachteule sei und mit keinem Arzt mehr zu tun gehabt habe, seit sein Fuß vor ein paar Jahren von einer Klimaanlage zermatscht worden sei. «Seht mich an», krähte er, «mit einem Gehirndoktor unterwegs!» Wir könnten sofort aufbrechen, sobald er ein paar Dokumente bei einem Freund abgeliefert habe. Er verließ die Bundesautobahn und fuhr erst Bundesstraßen, dann gewundene Landstraßen bis zu einer Kneipe. Sie bestand aus einem gedrungenen Schlackeziegelbau, der außen von Bierreklamen und dem Hinweis auf die Existenz eines Billardtisches beleuchtet war. Er lud mich ein, ihm Gesellschaft zu leisten, aber ich war noch nicht volljährig und hatte auch noch keinen Durst auf Alkohol entwickelt. «Gehen Sie nur», sagte ich. «Ich bleibe hier und lerne noch ein bisschen für das Lobotomie-Pensum von nächster Woche.» Es brachte mich um, dass T. W. mir den Arzt tatsächlich abgekauft hatte. Sobald wir in Kent ankamen, musste ich ihn dazu bringen, mich vor der Krankenstation abzusetzen und die paar Straßen zum Wohnheim ging ich dann zu Fuß. Ich hoffte, dass wir bis dahin nicht an irgendwelchen Autounfällen vorbeikamen, aber falls doch, würde ich ihm sagen, ich hätte keine Lizenz für diesen betreffenden Bundesstaat und dürfte dort leider nicht praktizieren.

Der Abend dämmerte, als T. W. die Bar betrat. Ich sah, wie die Sonne hinter dem Rund der Berge unterging und wartete eine Stunde, zwei Stunden, drei, bis es zu dunkel war, sich den Rucksack zu schnappen und auf eigene Faust weiterzuziehen. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war und auf dieser Straße kamen nur wenige Autos vorbei. Es gab keine Straßenlaternen und in der Ferne bellten Hunde. Als es anfing zu regnen, holte ich meinen Rucksack von der Ladefläche, trug ihn nach vorne und durchwühlte ihn nach einem zusätzlichen Pullover und einem Paar Socken, die ich mir an die Hände ziehen konnte. Ein Auto bog auf den Parkplatz ein und ich beobachtete, wie der Fahrer seinen Aschenbecher auf dem Kies ausleerte, bevor er die Bar betrat. Das schien mir die passende Geste für diesen Ort. Ich starrte die Lichter der Taverne an und fragte mich, wer wohl freiwillig in so einem schnuckeligen Schnarchnest leben mochte. Soweit ich gesehen hatte, war es nicht mehr als eine Kollektion von Fertighäusern, um einen Kiosk herum gebaut. Die Landschaft war zwar hübsch genug; man konnte durch sie hindurch fahren und die Berge bewundern, aber würde man dann nicht an einen bedeutenderen Ort fahren wollen? Reisen bildet, aber ohne Veronica deprimierte es nur. Je weiter ich herumkam, desto klarer wurde mir, dass ich niemandem wichtig war außer der Familie, die ich zurückgelassen hatte –, und wer kannte die schon außer ihren Freunden und Nachbarn in einer Stadt, die genauso witzlos war wie diese? Raleigh hatte zwar einen größeren Punkt auf der Landkarte, aber als Ganzes gesehen, hatte sich die Masse fremder Groß- und Kleinstädte dazu verschworen, den ohnehin wackeligen Mythos meines Dünkels vollends kleinzukriegen. Diese Gedankengänge machten mich völlig fertig, ich stellte das Autoradio an und lauschte einer Sendung, bei der die Hörer anrufen sollten. Sie riefen an und die Themen des Abends umfassten ein bevorstehendes Traktor-Wettziehen ebenso wie die verborgenen Gefahren, die in unbeaufsichtigten Heizsonnen schlummern. Heizen. Es war, als läse man einem hungerstreikenden Gefangenen eine Speisekarte vor. Ich hörte den Anrufern zu, stellte mir ihr warmes, behagliches Zuhause vor und beobachtete, wie meinem Munde eisige Wolken entquollen, die sich in der frostigen Luft auflösten.

T. W. taumelte gegen zehn Uhr aus der Bar, fast sechs Stunden, nachdem er sie betreten hatte. Er hatte die Arme um einen jubelnden Mann mit langem Gesicht und eine fettleibige Frau geschlungen, die sich als Schutz gegen den Regen ihre Handtasche über den Kopf hielt.

Sie sagte etwas, die beiden Männer krümmten sich vor Lachen und erbrachen sich praktisch vor Heiterkeit. Ich war übelster Laune, wusste aber, dass ich es würde schlucken müssen, wie ich immer alles schlucken musste, wenn ich mich auf andere verließ. Was auch seine Verdienste sein mochten –, das Trampen beraubte einen des gottgegebenen Rechts auf Gemecker. Ich musste so tun, als hätte ich weder gewartet, noch gefroren. «Das ging ja schnell», wollte ich sagen. «Nein, mir geht’s ganz prima. Ich reibe mir nur die Hände, weil ich aufgeregt bin. Was jetzt?» Ein Blick, und jeder wusste, dass T. W betrunken war. Er winkte seinen Gefährten zum Abschied und machte sich daran, den Motor seines Kleinlasters in Gang zu bringen, wobei er mit dem Zündschlüssel mal hier-, mal dorthin stach, als wäre das Zündschloss während seiner langen Abwesenheit unbekannt verzogen.

«Diese Leute sind meine Freunde», sagte er. «Ich kenne sie schon mein ganzes Leben lang, und es sind gute Leute, mit denen man Spaß haben kann, hast du das verstanden?»

Sein Gesicht hatte alle Spuren von Unschuld eingebüßt und war hart und dogmatisch geworden. «Freunde. Persönliche, private, gottverdammte Freunde. Das sind meine Freunde, meine eigenen Scheißfreunde.» Er wiederholte das Wort noch mehrere Male und trommelte sich zur Unterstreichung auf den Brustkorb. «Freunde. Sie mögen mich. Ich mag sie. Jetzt fahren wir zurück.»

Etwas sagte mir, wir würden in der nächsten Zeit nicht nach Ohio fahren. Wir erreichten die Bundesautobahn, hell erleuchtet und voller Verkehr. Ich sagte, er könne mich hier raus lassen, aber T. W. wollte nichts davon hören. «Nichts da», sagte er. «Du kommst jetzt mit zu mir nach Hause. Nach Hause mit mir zu mir nach Hause. Ich hab die Bude richtig schön eingerichtet, mit Teppichen und Fernsehern und dem ganzen Scheißdreck. In einer solchen Nacht kann ich dich doch nicht alleine losziehen lassen. Vergiss den ganzen Kack mit Schule und College; diese Leute sind doch scheißegal.»

Ich stellte mir sein Haus mit dem miesen Anstrich und den dungfarbenen Teppichen vor und hoffte, dass es an einer vielbefahrenen Straße lag. Wenn ich da war, konnte ich wahrscheinlich wegrennen, aber bis dahin musste ich ihn bei Laune halten.

«So, so, ein großer Brägendoktor bist du? Steckst gern andern Leuten deine dicken kleinen Finger in den Schädel und bastelst drin rum? Ja, gefällt dir das? Ich werd dir was geben, woran du herumbasteln kannst, großer Meister.»

Ich blickte auf die Straße hinaus und sah es nicht kommen. Er packte mich am Haar und zerrte meinen Kopf auf den Sitz hinunter, wo er mich, mit der einen Hand festhielt, während er sich mit der anderen in die Jackentasche fasste. Der Kleinlaster scherte aus und rutschte auf das Kiesbankett, bevor er das Lenkrad packte und den Wagen unter Kontrolle bekam. Da war etwas Kaltes und Stumpfes, was hart gegen meine Kinnlade gedrückt wurde und noch bevor ich es deutlich sah, kapierte ich, dass es eine Pistole war. Ihre physische Präsenz rief eine Ahnung von Dringlichkeit hervor, wie sie in allen Filmen oder Fernsehdramen, wo sie eine solche Schlüsselrolle spielt, fehlt. «Na? Gefällt dir das?»

Nur ein professioneller Irrer konnte so eine hirnverbrannte Frage stellen. Ich stellte mir sein Haus mit demselben Anstrich und derselben Auslegware vor, nur war es diesmal mit Leichen vollgestapelt, da es genau der richtige Ort für so was zu sein schien. Vielleicht nutzte er seine beruflichen Fähigkeiten und hatte eine Kühlkammer gegen die Verwesung gebaut, oder er wollte mich unter einem alten Werkzeugschuppen begraben, und die zuständigen Stellen mussten mich an Hand meiner zahnärztlichen Unterlagen identifizieren. Zahnärztliche Unterlagen, mein Gott. Wann war ich eigentlich das letztemal beim Zahnarzt gewesen, und warum war ich nicht eben jetzt beim Zahnarzt, während meine Mutter im Wartezimmer wartete und rauchte und sich Rezepte aus den Frauenzeitschriften riss, wenn die Sprechstundenhilfe es nicht merkte? Um seine Unterlagen gebeten, würde mein Zahnarzt wahrscheinlich sagen, selbst schuld, wenn man per Anhalter fährt. Alle würden das sagen. Meine Leute würden den Kopf hängen lassen, von meiner Dummheit beschämt, und T. W.s Nachbarn würden ins Fernsehen kommen, um zu sagen: «Er war so ein netter Mensch; wir hatten ja keine Ahnung.»

Ich spürte, wie der Wagen langsamer wurde und abbog. Wir waren jetzt nicht mehr auf der Bundesautobahn, wahrscheinlich auf einer unebenen Ausfahrt. Er hob die Pistole, um besser lenken zu können, und ich krabbelte über den Sitz, stieß die Tür auf und sprang, wobei ich unausgesetzt an die vielen Fernsehdetektive dachte, die dies auf wöchentlicher Basis zu tun schienen. Meine Mutter und ältere Schwester hatten sich die Nase am Bildschirm plattgedrückt, während ich ihre Begeisterung verhöhnte und bespöttelte. Springen und abrollen, dachte ich. Hatte das nicht meine Mutter gesagt, als ihr Held mit den dem Feind gestohlenen Blaupausen von einem Zug sprang? Springen und abrollen, springen und abrollen. Ich schlug auf dem Kiesbankett auf und stürzte weiter in einen Schlammgraben voll Abfall und Dornengestrüpp. Mein Rucksack war ein paar Meter entfernt gelandet, ich schnappte ihn mir und rannte und fragte mich, was wohl drin war und warum. Hinter mir hörte ich, wie der Kleinlaster von der Straße abbog, dann wurde die Tür geknallt, und jemand tobte durchs Dickicht. Er war es, hinter mir her. So viel bedeutete ich ihm und nun musste ich mich sogar noch heftiger anstrengen, um am Leben zu bleiben, denn dieser Mann, er war entschlossen. Ich dachte, vielleicht kletter ich auf einen Baum, aber das machte man, wenn man von Bären verfolgt wurde, stimmt’s? Vielleicht kletterten nur die kleinen Bären auf Bäume – die leichteren –, aber, wie dem auch sei, wie sollte ich mit Socken an den Händen klettern? Bei den größeren Bären musste man sich vielleicht hinlegen und totstellen, aber das hier war ein Mann, was hatte es also für einen Sinn, überhaupt an Bären zu denken? Er hatte eine Pistole und jetzt schoss er mir gleich in den Rücken oder vielleicht in den Kopf und Teile meines Schädels wurden auf dem Waldboden verstreut wie die Überbleibsel einer Melone. Ins Bein, vielleicht erwischt er mich da, oder in die Schulter, knallt mir den Arm am Ellbogen weg und ich kann mich glücklich schätzen, den Armstumpf zu massieren und Telefonnummern mit den Fingern der linken Hand zu wählen. Was ich brauchte, war eine Waffe. Andere Leute, Tramper, hatten mir gesagt, sie hätten immer irgendwas Kleines dabei, ein Messer oder eine Dose mit Reizgas und ich hatte gelacht, weil ich fand, dass es keine bessere Waffe gibt als den menschlichen Geist. Du Idiot. Ein Büchsenöffner. Vielleicht war ganz unten in meinem Rucksack ein Büchsenöffner, den ich an einem Stock festbinden konnte. Einen Speer bauen, das ist es, einen Speer! Ich hatte sie in den Andenkenläden gesehen, mit Federn und Perlenschnüren verziert. Die Indianer machten doch Speere, stimmt’s, oder nein, vielleicht dachte ich da an Tomahawks, sie machten Tomahawks, aber wie machten sie das? Brauchte man da nicht Tage oder sogar Wochen? Eine abgebrochene Flasche, eine Lanze, eine dieser stachligen Kanonenkugeln, die die Ritter an einer Kette herumwirbelten: Ich brauchte was für in die Hände, in die Arme. Ich brauchte meine Mutter; sie würde dem ein Ende machen. Lassen Sie meinen Sohn in Frieden! Wo war sie jetzt und was machte sie gerade? Es tut mir leid. Ich wollte, dass sie das wusste und formte das Wort immer wieder mit den Lippen. Leid, so leid. Ich sah hinter mich und fiel in ein Knäuel von Dornbüschen, dachte, ich sollte aufstehen und weiterlaufen, aber jetzt war er zu nah. Ich konnte ihn durch die Bäume sehen, als Silhouette gegen die Scheinwerfer. «Hey du, Dr. Kildare oder wer du bist, komm zurück.» Er sah nach rechts, dorthin, wo ich war und mir wurde klar, dass er mich nicht sehen konnte. «Ich tu dir nichts. Komm schon, komm zurück ins Auto. Ich hab doch nur Spaß gemacht. Das Ding ist nicht mal geladen, da, kuck.» Er betätigte den Abzug und die Pistole machte ein klägliches, klickendes Geräusch. «Ich hab nur ein bisschen Quatsch mit dir gemacht, verstehst du denn keinen Spaß?» Er kehrte langsam zu seinem Auto zurück und bückte sich, um sich durchs Unterholz zu wühlen. «Hey, Scheißkerl. Genau, ich sprech mit dir. Beweg deinen Arsch und komm zurück. Ich hab keinen Bock mehr.» Er steckte sich eine Zigarette an und pochte auf die Hupe und benahm sich, als wäre ich nur eben zum Urinieren ausgestiegen und hätte mich auf dem Rückweg verlaufen. «Willst du im Wald unter einem nassen Baumstamm pennen? Willst du das?» Er kurbelte das Fenster runter und fuhr langsam weiter, die Tür sperrangelweit offen und die Innenbeleuchtung an, und pfiff, wie nach einem verlorengegangenen Hund.

Ich hatte Angst, das könnte ein Trick sein. Vielleicht hatte er seinen Kleinlaster weiter oben an der Straße geparkt und plante, mich zu überrumpeln, sobald ich losrannte. Was war, wenn er einmal im Kreis fuhr und dann von hinten auftauchte? Anderseits konnte er, während ich mich hier versteckte, seine Pistole laden oder die anderen Mitglieder seines Kults oder Aufgebots anrufen, die dann den Wald mit Knüppeln und einem Leinensack zur Aufbewahrung meiner Leiche absuchen kamen. Ich stand auf und duckte mich gleich wieder. Stand auf und duckte mich, immer wieder, bis ich, als hätte ich vorgepumpt, aus dem Wald schoss, den Abhang hinunter und mitten auf die Bundesautobahn, wo ich mit den Armen fuhrwerkte und bettelte, jemand möge anhalten. Die ersten beiden Autos verfehlten mich nur knapp, aber das dritte fuhr rechts ran. Es waren drei College-Studenten, die das Wochenende zu Hause in Akron verbringen wollten. Ich berichtete ihnen, was geschehen war und meine Stimme war hauchig und hoch. «Und dann bin ich aus dem Wagen gesprungen und in den Wald gerannt und er kam mit einer Pistole hinter mir her und …»

«Es geht mich zwar nichts an», sagte der Fahrer, «aber bist du zufällig eine Schwuchtel?»

Seine Kumpel hielten sich die Hand vor den Mund und lachten hinein. Dies war nicht die mitfühlende Reaktion, die ich mir erhofft hatte. Sie hatten mich in der Hoffnung mitgenommen, dass ich Gras bei mir habe und sie hatten recht. Wir rauchten ein paar Joints und der Fahrer schob die Ozark Mountain Daredevils in sein Achtspurgerät. Das war meine Strafe. Meine Belohnung war, dass sie kein Wort mehr mit mir sprachen, bis sie mich an der Straße nach Kent raus ließen.

Ich fuhr in den nächsten paar Jahren weiter per Anhalter, aber nach dem Vorfall mit T. W. schien etwas anders geworden zu sein. Es war, als wäre ich irgendwie gezeichnet. Ich hatte immer damit gerechnet, dass die Menschen mir vertrauten, aber jetzt traute ich ihnen nicht mehr. Ein Fahrer stellte sich als Tony vor und ich fragte mich, warum er gerade diesen Namen gewählt hatte. Sie waren Lügner, jeder Einzelne. Mein Argwohn war eine Bake, welche genau die Menschen anzog, die ich hatte meiden wollen. Autofahrer begannen mich mitzunehmen, weil sie den Eindruck hatten, ich hätte mehr zu bieten als Dankbarkeit. Drogen waren die leichtere Übung; ich führte sie als kleine Aufmerksamkeit mit und bot sie an, sobald ich darum gebeten wurde. Was mich umhaute, waren die sexuellen Avancen. Welche Leistungen erwarteten sie denn bei fünfzig Meilen pro Stunde? Und warum mit mir, jemand Wildfremdem? Wenn ich an Sex dachte, malte ich mir jemanden aus, der vor mir stand und schrie: «Ich liebe dich so sehr, dass … ich nicht einmal mehr weiß, wer ich bin.» Mein imaginärer Boyfriend war unbestimmten Alters und unbestimmter Rasse, wichtig war nur, dass er verrückt nach mir war. Unser erstes Treffen würde unter bizarren Umständen stattfnden: bei der Taufe eines Kriegsschiffs, oder vielleicht brachte uns ein Hurricane in einem überfüllten Luftschutzbunker zusammen. Ich dachte daran, wie er um mich freite und an die Jahrestage danach, wenn sich unsere Adoptivkinder um unsere Füße versammelten und sagten: «Erzählt uns doch noch mal von euerm ersten Rendezvous.» Vermutlich hätten wir uns durchaus in einem Auto oder Lieferwagen kennenlernen können, aber nicht während ich per Anhalter fuhr; das musste schon etwas komplizierter sein. Vielleicht bekam der Fahrer meines Fahrzeugs einen Herzinfarkt und er war einer der Sanitäter im Krankenwagen. Wichtig war, dass ich nicht danach suchte; dadurch wurde es dann so romantisch.

«Machen Sie beim Trampen eigentlich ziemlich viel herum so?» Am unverblümtesten waren die Männer mit Ehering und Sicherheits-Kindersitzen, deren geheimes Doppelleben schnelle, anonyme Partnerschaften erforderte. In der Nähe von Atlanta hatte ich mit einem Ehepaar ein unerfreuliches Erlebnis. Um zwei Uhr nachts fuhren sie mit ihrem Cadillac von der Hüfte abwärts nackt durch die Gegend. Sie luden mich ein, die Nacht in ihrem Haus zu verbringen, wobei der Mann beiläufig masturbierte und die Frau sich die Haare kämmte. «Du kriegst auch was zu essen von uns», sagte sie. «Ich bin eine verdammt gute Köchin, da kannst du jeden fragen.»

Ein paar Tage später wurde ich bei Fayetteville von einem Mann über eine dunkle Schotterstraße gefahren, der sich erbötig machte, mir den Schädel zu zerquetschen wie eine Erdnuss. Das Kauern in Büschen war eine Art Hobby geworden und ich wusste, dass es an der Zeit war, mir einige sehr ernste Fragen zu stellen. Ich ging die acht Meilen zurück in die Stadt zu Fuß, bestieg einen Bus und fuhr nie wieder per Anhalter.

Ich habe immer noch nicht Auto fahren gelernt. Einmal war ich in Urlaub mit einem Freund, der auf den verlassenen Parkplatz eines Hamburger-Restaurants fuhr und verlangte, dass ich es wenigstens mal versuche. Nachdem er den subtilen Unterschied zwischen Gas und Bremse erläutert hatte, tauschten wir die Plätze, und er heulte protestierend auf, als ich beherzt in die zweispurige Straße einbog. Es war Sonntag und kein nennenswerter Verkehr. Ich überholte einen Jungen auf einem Fahrrad und eine alte Frau mit einer Schubkarre. Dass ich so nah an denen dran gewesen war, machte mich nervös, und ich wählte die Fahrbahnmitte, wo es sicherer zu sein schien. Ich gab ordentlich Gas und tat, als führe ich eine Schwangere zur Entbindung, dann wurde ich langsamer und schlich auf dem Bankett entlang, als wäre ich am Steuer eingeschlafen. Wir kamen an eine Ranch, die in der Farbe von Radiergummis angestrichen war. Im Garten stand ein Mann. Er trug eine Schürze und bediente einen rauchenden Grill. Ich hupte und winkte und erwartete, dass er seine Grillzange fallen lassen und in Deckung rennen würde, als hätte er einen Schimpansen am Steuer gesehen. Anstatt aber nun ins Unterholz zu tauchen, hob der Mann seine behandschuhte Hand zum Gruß, bevor er sich wieder um sein Grillgut kümmerte. Es war aufregend, dass mich jemand mit einem Autofahrer verwechseln konnte, dass ich einen kurzen Augenblick lang seriös und selbständig gewirkt hatte. Ich genoss meinen Ausfug, aber ich wusste, dass er nie zur Gewohnheit werden würde. Auto fahren ist zu gefährlich, und davon abgesehen bin ich nicht der Typ, der Versicherungsformulare ausfüllt. Ich zog in Städte mit anständigen öffentlichen Verkehrsmitteln, nach Chicago und dann nach New York, was sogar noch besser ist, weil es da mehr Taxis gibt. Wenn man mitgenommen werden will, streckt man die Hand aus, allerdings ohne den Daumen, welchen man innen gegen die Handfläche drückt. Die Fahrer sprechen nicht viel Englisch, aber dafür bezahlt man sie ja zum Teil: die Ruhe.

Hin und wieder fahre ich bei einem Freund mit, und wir kommen an jemandem vorbei, der am Straßenrand steht. Das Haar ist vom vorüberhastenden Verkehr wüst verweht und seine Lippen bewegen sich in Fluch oder Gebet. Ich möchte dem Fahrer sagen, er soll rechts ranfahren und anhalten, aber stattdessen tue ich so, als gäbe es plötzlich Probleme mit dem Rundfunkempfang, und ich senke den Kopf, bis der Geist aus dem Rückspiegel verschwunden ist.